Die Umkehr

Wie jeden morgen trank er eine Tasse Tee auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette dazu. Er sah, daß der Tabak nicht für eine weitere Zigarette reichen würde. Einer plötzlichen Eingebung folgend zog er sich an, steckte die Post ein, die schon gestern abgeschickt hatte werden sollen und machte sich auf den Weg zur nahen Postagentur. Brötchen wollte er auch gleich mitnehmen und anschließen schön frühstücken.

Er betrat den Laden, legte den Brief auf den Tresen und faßte in seine Gesäßtasche. Tja, Geld vergessen. Also zurück, Geld holen und nochmals den gleichen Weg. Trotzdem fühlte er sich gut, die Depression von gestern war wie weggeblasen. Und wenn er an SIE dachte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.

An der Fußgängerampel blieb er stehen, drückt auf die Taste und wartet auf Grün. Und mit diesem Lächeln auf den Lippen betrat er den Überweg. Den Aufprall des Fahrzeugs auf seinen Körper spürte er noch. Ein grausamer Schmerz durchflutete seinen ganzen Körper. Den Aufschlag auf der Straße spürte er schon nicht mehr.       

Er hatte einen Traum:

Eigentlich hatte der Tag gut begonnen. Bereits früh um acht Uhr eine Supernachricht. Im Laufe des Vormittags eine tolle Frau kennen gelernt. Eine neue Frisur, eine neue Farbe. Nach einem späten Frühstück setzte er sich vor seinen PC und begann eine neue Webseite für einen neuen Kunden zu erstellen.

Da rief SIE an. SIE, nach über einem halben Jahr totaler Kontaktlosigkeit. Er erkannte ihre Stimme kaum, so hatte sie sich verändert. Ruhig und gelassen. Nicht mehr hektisch und mit vielen abgebrochen Halbsätzen. Er schaute auf den Anrufmonitor. Er zeigte keine Rufnummer an. Vielleicht hätte er das Gespräch sonst gar nicht erst angenommen. Es war ein gutes Gespräch. Keine Vorhaltungen, keine Forderungen. Nur eine schöne Unterhaltung. Und es warf ihn völlig aus der Bahn.

Eigentlich, dachte er, hatte er sich wieder einigermaßen gefangen, nach dem Scheidungsantrag. Es hatte weh getan. Sehr weh. Dabei war er es doch gewesen, der die Beziehung im Grunde beendet hatte. Obwohl… Er hatte mehrmals versucht, wieder Kontakt herzustellen. Bis vor einem halbem Jahr. Dann hatte er sich zurückgezogen. Und er war nicht sonderlich überrascht, daß ein simpler Anruf ihn derartig aufwühlte.

Er hatte viel Zeit gehabt, zum Nachdenken. Über sich, über die Beziehung, über SIE, über die Andere.

Wie betäubt saß er vor seinem Computer. Nicht mehr fähig auch nur irgend etwas Sinnvolles zuwege zu bringen. Er saß nur da und starrte auf den Bildschirm. Nach endlosen Minuten stand er auf, lief planlos durch die Wohnung und fand sich dann in der Küche wieder. Trank einen Schluck Eistee und wußte im Grunde nicht, was er hier eigentlich tat. Dann nahm er das Päckchen Tabak, er hatte wieder angefangen zu drehen, und trat auf die Terrasse. Wie in Trance begann er eine Zigarette zu drehen. Und als er endlich merkte, daß er sie nicht fertig bekam, sah er, daß seine Finger zitterten. Er schob die Utensilien von sich und versuchte es nach kurzer Zeit erneut. Und diesmal gelang es. Um sich abzulenken nahm er eine Zeitschrift zur Hand und schlug sie auf. Doch das Gelesene erreichte sein Gehirn nicht.

Als die Zigarette geraucht war, und er nicht wußte, was er gelesen hatte, stand er auf und setzte seinen sinnlosen Rundgang fort. Einem inneren Zwang folgend nahm  er die Mappe mit den alten Briefen aus einer Schublade. Und als er ihre Schrift auf einem der Umschläge erkannte, öffnete er ihn und nahm den Brief heraus. Er sah auf das Datum: 11. Januar 1980. Und er las: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Und weiter las er, daß sie traurig war wegen ihm. Weil er nicht mit ihr sprach, lieber vor dem Fernseher saß. Und weil sie nicht wußte, ob er sie noch liebte, weil er es nicht zeigte. Verdutzt hielt er inne. War er damals, vor 20 Jahren, schon so verdammt blöd gewesen? Am Ende des Briefes schrieb sie, daß sie ihn immer lieben würde, egal was kommen würde. Als er etwas auf das Papier tropfen hörte, merkte er, daß ihm Tränen die Wangen herunter liefen. Er legte den Brief in die Mappe zurück und die Mappe in die Schublade. Dann nahm er ein altes Fotoalbum. Doch schon nach dem ersten Bild zwang er sich, das Album zu schließen. Er konnte sich plötzlich in aller Deutlichkeit ausmahlen, was passieren würde, würde er alle Fotos ansehen.

Und als er sich endlich seines planlosen Verhaltens bewußt wurde, war ihm klar, er mußte mit jemandem reden. Aber das war wiedermal das alte Problem. Mit wem?

Mit wem konnte er seinen, für andere banalen, Probleme besprechen. Als er es versucht hatte, dieser Scheidungsantrag hatte ihn völlig überrascht und bedrückt, hatte er nur zu hören bekommen, sei doch froh, daß es endlich vorbei ist.

Den Kopfhörer auf den Ohren und Kilometer fressen. Das würde ihm fürs Erste helfen. Also steckte er ein, was er brauchte und schwang sind draußen auf sein Rad. Er brauchte nichts tun, die Gedanken kamen und gingen automatisch. Und auf dem Rad drehten sie sich nicht im Kreis. Auf dem Rad konnte er klar denken.

Sie hatte den ersten Schritt getan. Sie hatte angerufen. Was sollte er daraus schließen? Und endlich, hier auf dem Rad, mit dem Blues von Rory Gallagher auf den Ohren erkannte er den falschen Weg. Plötzlich wurde ihm klar, daß er alles in diesem Jahr falsch gemacht hatte. Ja, er hatte immer geglaubt, daß er sie noch liebte. Doch jetzt wußte er es.

Er hatte immer geschwankt zwischen ihr und der Anderen. Doch jetzt, hier auf dem Rad, wußte er, wen er wirklich liebte. Konnte, ja mußte er nun den nächsten Schritt tun? Oder verfiel er wieder in seinen alten Fehler, der so schön beschrieben wurde: Abwarten und Tee trinken. Wie viele Gelegenheiten hatte er damit schon verpaßt! Sollte er ihr auch den zweiten Schritt überlassen?

Er hörte ein Klacken im Kopfhörer. Die CD war zu Ende. Eine Stunde war er nun schon unterwegs. Die Zeit war vergangen wie im Flug. Er hielt an und durchsuchte seine Taschen. Mist, keine zweite CD eingepackt. Wenigsten konnte er wieder normal denken. Er klappte den Deckel des CD-Spielers zu und die Musik begann von vorn. Der lange Rückweg begann. Nicht nur der nach Hause. Auch der zurück zu seiner wahren Liebe.

Als er am nächsten Tag erwachte, konnte er sich an seine Träume erinnern. Das war selten. Meistens wußte er nicht, was er geträumt hatte. Aber diesmal hatte er von ihr geträumt. Sie waren wieder zusammen und er bemühte sich, nicht die alten Fehler zu begehen, sondern mit ihr zu reden. Und es war ein scheiß Gefühl, aufzuwachen und zu wissen, das es nur ein Traum war.

Er hörte Stimmen, als er erwachte. Nach kurzer Zeit konnte er sie unterscheiden. Eine Stimme war IHRE, die andere kannte er nicht. Sie sprachen über ihn. Sie sprachen von Geräten die abgeschaltet werden sollten und das er es so verfügt hätte.

Er versuchte die Augen zu öffnen. Es gelang nicht. Er versuchte sich zu bewegen. Es gelang nicht. Wieder drang die Stimme in ihn ein. „Gibt es wirklich keine Zweifel mehr?“ hörte er SIE fragen, mit erstickter Stimme, „es ist doch noch nicht mal ein halbes Jahr vergangen“. „Nein“, sagte die fremde Stimme.

Wieder, mit aller Kraft, die ihm jetzt zur Verfügung stand, versuchte er, wenigstens ein Augenlid zu heben. Und langsam, ganz langsam gelang es ihm. Beide Personen wandten ihm den Rücken zu. Mit einer letzten Willensanstrengung öffnete er auch das andere Auge einen Spalt. Durch die Wimpern hindurch erkannte er eine Frau und einen weißen Kittel. Er erfaßte den Raum, soweit es möglich war und entdeckte eine Vielzahl von Geräte.

Die Frau, deren Stimme er erkannt hatte, drehte sich ihm zu, zeigte ihm ihr Gesicht und nun erkannte er SIE. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der weiße Kittel trat auf die Geräte zu und hantierte an ihnen herum. Die Anzeigen erloschen.