Die Entscheidung 31.12.2001
Ratlos saß sie am Fenster und schaute in den schneebedeckten Garten.
Alle Worte waren gesagt, alle Tränen geweint. Selbst der Himmel hatte sich Ihrer Stimmung angepasst. Schwer und grau hingen die Wolken in der Luft. Es sah weiterhin nach Schnee aus, aber die Flocken fielen nicht.
Die Tür öffnete sich und ihre Tochter Esmè trat herein. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Mama, kann ich rausgehen“? Geistesabwesend nickte die Frau. Ihre Tochter war das einzige, was sie noch hielt. War der einzige Grund, weshalb sie die Tabletten vor ein paar Tagen nicht genommen hatte. Aber sie lagen griffbereit.
Leer war ihr Kopf. Bis auf einen winzigen Gedanken an Liebe. Fahrig strich sie sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. Liebe ist, loslassen zu können. Was für ein bescheuerter Spruch. Sie hatte losgelassen. Gab es noch einen Weg? Zu ihrem Mann sicher nicht. Sie hatten es noch mal versucht. Aber der Bruch war zu groß. Er hatte sich die größte Mühe gegeben. Und sie hatte alles ertragen. Ja, ertragen war das richtige Wort. Im Nachhinein. Die Liebe hatte sie jedoch bei jemand anderen gefunden. Dies konnte ihr Mann ihr nicht geben. Oder vielmehr ihr Mann ihr ja, aber sie nicht ihrem Mann. Hatte sich zwar immer wieder eingeredet, die Zuneigung zu ihrem Mann wiedergefunden zu haben. Aber im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß sie sich damit selbst belog. Sie war hart geblieben. Die Entscheidung mit ihrem Kopf und nicht mit ihrem Herzen getroffen. Aber schon nach wenigen Monaten konnte sie das Lügengebäude, welches sie um sich herum aufgebaut hatte, nur noch mit allergrößter Mühe aufrechterhalten. Und in Momenten wie diesen brach wieder ein Stück weg.
Ein Geräusch kroch unsagbar langsam an ihr Ohr. Es dauerte, bis sie es identifizieren konnte. Der Wasserkessel. Sie hatte sich einen Tee kochen wollen. Sie schaute auf die große Uhr an der Wand. Sie hatte noch gar nicht lange hier gesessen. Es kam ihr vor wie Stunden.
Ihr fehlten Freunde, mit denen sie hätte sprechen können. So mußte sie alles mit sich allein ausmachen. Hatte sie eigentlich schon immer. War ihre Art. Sie war eisern geworden in den letzten Jahren. Umsomehr hatte es sie einfach hinweggespült, als sie wieder Gefühle zuließ. So wahnsinnig große und tiefe Gefühle. Hatte sie schon jemals solche Gefühle besessen?
Langsam stand sie auf und ging in die Küche.
Der Pfeifton war nicht zu ertragen. Ruckartig nahm sie den Kessel vom Herd. Verbrannte sich leicht am Wasserdampf, achtete nicht darauf. Nahm den Schmerz kaum wahr. Goß Wasser in die Tasse mit dem Teebeutel und setzte sich wieder ans Fenster.
Kaum das sie saß, läutete es an der Haustür. Sie schaute wieder auf die Uhr. Ihr Mann. Zu faul, den Schlüssel zu benutzen. Sie stand auf und eine deutliche Veränderung in ihrem Verhalten und auf ihrem Gesicht war zu sehen. Ein guter Beobachter konnte dennoch ihre Sorgenfalten erkennen. Sie öffnete die Tür. „Hallo Schatz“. Ein flüchtiger Kuß. Ihre Tochter stürmte an Ihnen vorbei. Sie lächelte. Ließ sich von ihrem Kummer nichts anmerken. Der Mann glaubte immer noch, es wäre wieder alles in Ordnung. Sie hätte Schauspielerin werden sollen. Er rauschte ins Bad um zu duschen.
Und plötzlich wußte sie was sie tun mußte. Sie hatte sich und die Männer lange genug gequält. Zumindest einen von ihnen.
Sie nahm einen Notizzettel vom Telefontisch und schrieb: Muß eben zu Mutter. Bin gleich zurück. Fluchtartig verließ sie das Haus, hörte noch ihre Tochter hinter dem Wohnzimmerfenster.
Sprang ins Auto und raus aus der Siedlung. Auf der Hauptstraße hielt sie an, nahm ihr Handy, wählte die Nummer, die sie schon lange nicht mehr gewählt hatte.
Nach nur zweimal Klingeln eine Stimme am anderen Ende. „Hallo“. „Ich bin’s“, sagte sie. Sie konnte die Überraschung am anderen Handy fast körperlich spüren. „Können wir uns sehen“, fragte sie, und: „Ich muß Dich unbedingt sehen“. „Wann“, kam es zurück. „19 Uhr? Auf halber Strecke? Ich komme Dir entgegen“. Dann beendete sie das Gespräch.
Ließ ihren Jemand verdutzt zurück. Er mußte wissen wo, wenn er sie noch liebte. Stieg aus und rauchte eine Zigarette. Dann stieg sie wieder ein und fuhr zurück.
Ihr Mann kam gerade aus dem Bad, hatte den Zettel noch nicht gefunden. Sie ließ ihn verschwinden. „Ich muß noch mal weg heute Abend“, sagte sie so beiläufig wie möglich. „Vera hat angerufen, hat große Probleme“. Sah auf ihre Uhr. Hatte noch Zeit. Eine Tasse Tee.
Nahm eine Zigarette aus der Schachtel und ging auf die Terrasse. Sie rauchten nicht in der Wohnung. Ihr Mann kam hinterher. „Mußt Du wirklich noch hin? Bei dem Wetter!“
„Ja“, sagte Sie, „Kann sie doch nicht im Stich lassen, gehst Du bitte gleich noch mit dem Hund, Esmè kann ja mitgehen“.
Pünktlich fuhr sie los, wollte eher am Treffpunkt sein. Wollte sehen wie ihr Jemand kam.
Sie schaffte es nicht. Sie mußte vorsichtig fahren. Es war wirklich glatt.
Als sie auf den Parkplatz kam, war er schon da. Stieg aus und kam ihr entgegen. Unschlüssig, ja verlegen stand er da und wartete, bis sie ausgestiegen war. Sie ging auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. Küßte ihn. Nicht so flüchtig wie ihren Mann, aber auch noch nicht so wie früher.
Sie gingen zu seinem Auto und setzten sich wie selbstverständlich auf den Rücksitz. Engumschlungen saßen sie da. Minutenlang sprach keiner. „Ich kann nicht mehr. Ich liebe dich“, sagte sie endlich. Ihr Jemand küßte sie zärtlich. Ihr Handy schrillte. Sie zuckte zusammen. „Ja“. Eine brüchige Stimme kam aus dem Gerät: “Wo bist Du, bitte komm nach Hause“. Ärger stieg in ihr hoch. Nicht schon wieder. Nicht schon wieder den Abend zerstören. „Was ist denn?“ Keine Antwort. „Sag mir was los ist. Sonst hat es Zeit bis nachher“. Nur ein Schluchzen. „Dann bis später“, sagte sie und beendete die Verbindung.
Ihr Jemand frage nicht. Nahm sie wieder in den Arm. Das Handy schrillte erneut. „Was ist denn jetzt?“ Eine weinende Stimme. „Bitte komm nach Hause. Esmè, Esmè ist, hatte, hatte einen Unfall“. Dann wurde aufgelegt. Ihr Jemand sah die Veränderung von einer Sekunde auf die andere. Sie wirkte völlig beherrscht, distanziert. Das war das Einzige, was er nicht an ihr mochte. „Ich muß nach Hause. Irgendwas ist mit Esmè“. „Soll ich Dich fahren?“. „Nein“, sagte sie. „Aber ich ruf Dich an, sobald ich Bescheid weiß“.
„Esmè ist tot“, sagte sie ins Handy. Ihr Jemand hatte das Gefühl, als wenn ihm der Boden auf dem er stand, weggezogen würde. „Sie ist vor ein Auto gerutscht, bei dem Glatteis“.
„Was soll ich tun?“ fragte ihr Jemand. „Nichts“, sagte sie, „ich melde mich, wenn alles vorbei ist“. Dann brach sie zusammen.
Am Tag nach der Beerdigung rief sie an. Sie wußte nicht, wie sie die letzten Tage überstanden hatte. Alle hatten versucht, ihr zu helfen. Aber ihr war nicht zu helfen. Nicht mehr.
„Hallo Schatz“, flüsterte sie, „ Wenn du es immer noch tun willst, dann laß es uns zusammen tun“. Ihr Jemand wußte was gemeint war. „Dann sei bitte um 19 Uhr an der Schule“.
Sie trafen sich an der Schule in Ihrer Stadt. Hier wurden abends immer Kurse abgehalten. Die Tür war nicht verschlossen. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie in den achten Stock. Dann die halbe Treppe ins Neunte. Durch eine kleine Tür aufs Dach. Es war windstill. Vereinzelt fielen kleine Schneeflocken.
„Hier“, sagte ihr Jemand, „ich hab uns was mitgebracht“. Er holte eine Flasche „Jack Daniels“ heraus. „Männerabend“, sagte sie, ohne witzig sein zu wollen. „Wir trinken aus der Flasche“. Er gab sie ihr. Sie nahm einen tiefen Schluck. Hustete. Spuckte die Hälfte wieder aus. Es brannte fürchterlich. Sie nahm einen erneuten Schluck. Vorsichtiger.
Er setzte sich. Sie lehnte sich an ihn, halb sitzend, halb liegend. Die Flasche war halbleer, als sie aufstand. Schwankend zog sie ihn hoch. Umarmte ihn. Bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Rückwärts tastend zog sie ihn mit sich. Küßte ihn plötzlich wild und leidenschaftlich. Wie hatte ihr Jemand mal gesagt, der letzte Kuß von Dir ist immer so wild, als wenn es der Letzte wäre. Ja hatte sie geantwortet, ich weiß ja auch nie, ob es nicht wirklich der Letzte ist.
Der Rand war erreicht.
Die Lippen fest auf die seinen gepreßt hielt sie ihn mit ihrer ganzen Kraft umklammert.
Dann ließ sie sich nach hinten fallen.