Das Ende

Monate waren vergangen. Monate in denen er versucht hatte, ein normales Leben zu beginnen. Er hatte sich die Hoffnung zum Lebensziel gemacht. Denn Hoffnung war alles, was ihm geblieben war.

Bis sie sich wiedersahen. Sie behandelte ihn schlecht. „Vergiß es!“ warf sie ihm an den Kopf, als er fragte, ob sie zusammen einen Kaffee trinken könnten. Und als er fragte warum, antwortete sie mit einem Schulterzucken: „Weil es nicht geht“. Sie machte keine Anstalten, das Gespräch weiterzuführen und er nickte nur.

Als er dann Zuhause war, den Kopf voll leerer Gedanken, formte sich langsam ein Brief, irgendwo tief hinter dieser Leere. Und er setzte sich hin und schrieb:

„Das war’s dann wohl. Es tut mir leid, daß ich Dir diesen Brief schreibe. Aber ich muß Dich aus meinem Kopf bekommen. Und vielleicht gelingt es mir mit diesem Brief. Eigentlich wollte ich Dir sagen, daß ich Dich noch immer liebe, nie aufhören werde Dich zu lieben. Eigentlich wollte ich Dir einen Brief geben. Einen Brief, der Dir hätte zeigen können, wie es mir geht. Kannst Du Dich noch daran erinnern, als Du mich eines Tages gefragt hast, ob ich wirklich glaube, Du hättest mich nur verarscht, mir nur was vorgespielt? Man hatte Dich damals als oscarreife Schauspielerin bezeichnet. Ich war damals erschrocken, daß Du so was von mir denken konntest. Doch heute, heute habe ich so meine Zweifel. Nach allem was Du mir gesagt hast, geschrieben hast. Kann das wirklich alles nur ein Versehen gewesen sein? Weil Du nur geglaubt hast, mich zu lieben? Hast nicht DU gesagt, wir würden uns immer lieben? Hast nicht DU gesagt, wir hätten uns gesucht und gefunden? Hast nicht DU gesagt, Du würdest mich immer lieben? Hast nicht DU in unserer kurzen Beziehung die Zügel in die Hand genommen, und ich bin Dir willig gefolgt? Wenn das alles wirklich gespielt war, dann gebührt Dir tatsächlich eine Oscarnominierung. Ich kann es noch immer nicht glauben.

Warum hast Du mir das alles angetan? Ich habe meine Familie für Dich verlassen. Weil Du mir das Gefühl gegeben hast, Du wärest das Wichtigste auf der Welt. Und ich für Dich. Ich habe meine Frau für Dich verlassen, die ich 25 Jahre geliebt habe. Zumindest geglaubt habe zu lieben. Bis ich Dich traf. Ich habe meinen Lebensinhalt für Dich aufgegeben. Mein Hobby, für das ich fast 24 Stunden am Tag gelebt habe. Weil Du mir das Gefühl gegeben hast, das es etwas Wichtigeres geben würde als das. Aber Du hast mich nur benutzt. Benutzt, um Deine ins Wanken gekommene Ehe zu kitten. Benutzt, um Dein Selbstwertgefühl aufzupolieren. Du hast es genossen, von mir angehimmelt zu werden. Wie ein Teenager. Du bist durch mich wie Phönix aus der Asche empor gestiegen. Und was hast Du mit mir gemacht? Du hast mir nicht nur weh getan, mich nicht nur verletzt. Du hast mich zerstört! Du hast mir nicht den Lebenswillen genommen. Man braucht keinen Willen um zu leben. Man lebt sowieso. Du hast mir die Lust am Leben genommen. Ein Leben ohne Dich ist kein Leben. Und dennoch, und das ist das Schlimme, der Verlust der Lust am Leben ist nicht gleichbedeutend mit dem Mut zum Tod. Das bedeutet, ich werde für den Rest meines Lebens lustlos sein. Sicher, bis auf die wenigen Augenblicke, wo ich Dich aus meinen Gedanken verbannen kann. Mir klingen noch die Stimmen einiger Weniger in den Ohren. Vergiß sie, sie ist es nicht wert. Aber es ist nur ein halbes Jahr vergangen! Warum gibt es ein Trauerjahr nach einem Sterbefall. Soviel Zeit, habe ich geantwortet, müßt ihr mir auch zugestehen. Obwohl ich mir sicher bin, daß diese Zeit nicht reicht. Keine Zeit wird reichen“.

Einige Minuten blieb er sitzen, ohne zu schreiben, ohne zu denken, ohne sich zu bewegen. Nun war auch der Platz hinter seinen leeren Gedanken leer. Er war leer. Er war völlig leer.

Automatisch, das heißt ohne zu denken, zündete er sich eine Zigarette an. Nahm einen Zug, sah dem ausgestoßen Qualm nach. Beim nächsten Zug mußte er husten und das brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Zumindest teilweise. Hatte er wirklich keinen Mut zum Sterben. War das Sterben nicht genauso sinnlos wie das Leben? Er versuchte krampfhaft nachzudenken. Doch die Worte die er gedanklich formte, verflüchtigten sich so schnell wie er sie dachte. Eigentlich war das doch noch nicht alles, was er ihr schreiben wollte. So schnell, wie er die ersten Zeilen hatte schreiben können, so schwierig war es nun, Worte zu finden.

Und er schrieb weiter:

„Ich habe noch ein Problem. Ich kann Dich nicht hassen. Für all das was Du mir angetan hast. Ich kann Dich nur lieben. Obwohl du mir all das angetan hast. Und das macht es mir noch viel, viel schwerer. In mir ist nur Enttäuschung. Und Leere. Da wo Du sonst gewesen bist. Und womit soll diese Leere jemals gefüllt werden? Wenn ich soviel Hass entwickeln würde, wie ich Liebe entwickelt habe, würde ich die ganze Welt in Asche legen können. Aber ich kann Dich nicht hassen.

Was wirst Du tun, wenn du diesen Brief liest? Wirst Du die Schultern zucken und ihn dann wegwerfen? Wirst du sauer sein, daß ich ihn geschrieben habe, weil Du dich unschuldig fühlst? Oder wirst du nachdenklich Dasitzen und ein schlechtes Gewissen haben? Ich will Dir kein schlechtes Gewissen machen. Ich will Dir nur erklären, was Du in mir ausgelöst hast. Obwohl die Worte dafür nicht reichen. Weder die Positiven, noch die Negativen.

Und während ich dies hier schreibe, mir die Wut (eigentlich habe ich gar keine Wut) von der Seele schreibe, weiß ich doch, das ich Dich immer lieben werde“.

Nachdem er geendet hatte, las er sich den Brief nochmals durch. Faltete ihn sorgsam zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. Dann nahm er den Brief, den er ihr eigentlich hatte geben wollen, und legte ihn dazu. Insgeheim hoffte er, daß er ihr weh tat, wenn nicht mit dem einen Brief, dann mit dem anderen. Und obwohl er ihr geschrieben hatte, er wolle ihr kein schlechtes Gewissen bereiten, hoffte er, sie würde eines haben.

Er sah auf die Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er den Brief noch vor der nächsten Briefkastenleerung einwerfen. Das Postamt lag nicht weit von seiner Wohnung. Er nahm die Haustürschlüssel vom Haken. Polterte die Treppe herunter und schwang sich draußen auf sein Fahrrad. Radelte vom Hof und direkt in einen Zementtransporter. Er hatte keine Chance gegen den vollbeladenen LKW. Schwer schlug er auf, wurde noch ein paar Meter weit mitgeschleift. Der Brief entglitt seinen Händen. Er würde niemals abgeschickt werden!