Als das Leben ihn verließ

Es war vorbei. Endgültig vorbei. „Ich liebe Dich nicht mehr“, hatte SIE ihm gesagt. Und er war sich sicher: Das war eine Lüge. Eine Lüge um sich zu schützen. Weil SIE es nicht ertragen konnte, wie er litt. Durch diese Ungewißheit litt. Und als SIE dann weinte, war er felsenfest davon überzeugt.

Er akzeptierte IHRE Entschuldigung. Ja, es hörte sich an wie eine Entschuldigung. Und er sagte IHR, daß seine Liebe zu IHR nie enden würde. War verständnisvoll, sagte IHR, SIE solle kein schlechtes Gewissen haben. Brachte SIE damit aus der Fassung. SIE weinte.

Die Tage vergingen. Und die Zweifel nagten. Was, wenn SIE ihm tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, SIE ihn wirklich nicht mehr liebte? Aber noch konnte er die Zweifel immer wieder unterdrücken. Auch Gefühle brauchen ein Zuhause. Er hatte also alles in eine Schublade gepackt. Aber noch bekam er diese Lade nicht zu. Hier und da hingen Erinnerungen heraus. Machten sich von Zeit zu Zeit selbstständig, und verhinderten so, daß die Lade geschlossen werden konnte.

Dann sah er SIE mit diesem anderen Mann. Ja, er hatte IHR immer weniger vertraut. Ließ SIE nicht aus den Augen. Sah, wie SIE mit ihm sprach. Deutete dies als Heimlichtuerei, als neues Verhältnis. Eine Welt zerbrach. Er wollte schreien. Doch der Schrei löste sich nicht, erstickte ihn fast.

SIE hatte ihn nicht belogen, als SIE ihm sagte, SIE liebte ihn nicht mehr. Oder doch. Die ganze Zeit?! Fassungslosigkeit. Nein, er faßte es nicht. Sein Kopf schien zu explodieren. Er spürte, wie kalte Wut seinen Rücken empor schlich. Und er wußte, hatte sie seinen Kopf erreicht, würde er etwas tun, was er vielleicht später bereute. Er wandte sich ab, flüchtete.

Verließ das Gebäude, vergrub sich hinter dem Lenkrad seines Autos. Startete endlich den Wagen und rollte vom Parkplatz. Als er wieder zu sich kam, stand er vor seiner Haustür. Keine Ahnung wie er da hingekommen war. Konnte sich an nichts erinnern. Nur das Bild von IHR mit diesem anderen Mann war da. War wie auf seiner Netzhaut eingebrannt.

Die Wut hatte nicht nachgelassen. Nein, war sogar größer geworden. Hatte seinen Kopf erreicht. Gut das er gefahren war. Nahm wie unter Zwang die Flasche Whisky aus der Bar und setzte sie an, trank einen tiefen Schluck. Und noch einen. Das Zeug brannte ihm fast die Speiseröhre weg. Dann drückte er den Korken in die Flasche und stellte sie zurück.

Ging in sein Arbeitszimmer und hämmerte auf den Sandsack ein, der in einer Ecke hing. Merkte nicht, daß die Haut an den Knöcheln aufplatzte. Als ihn die Kräfte verließen, wandte er sich ab. Sah überrascht auf seine blutverschmierten Hände. Der Schmerz holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Das  war das Ende. NEIN! Das war erst der Anfang. Man hatte ihm wehgetan, über lange Zeit. Immer und immer wieder kleine Nadelstiche in sein Herz. Die heilten. Und zum Schluß einen dicken, dicken Pfeil mitten hindurchgeschossen. Diese Verletzung würde nie heilen.

Er würde jeden Nadelstich zurückgeben. Und vielleicht einen noch größeren Pfeil abfeuern.

Die ganze Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Saß, lag, wanderte ruhelos durch die Wohnung. Rauchte, trank Tee. Trank Kaffee, rauchte.

Am nächsten Morgen führte ihn der erste Weg zu seinem Hausarzt. Er ließ sich krankschreiben. Er sah fürchterlich aus. Unausgeschlafen (kein Wunder), nervös, krank. Der Arzt hatte keine Zweifel. 

Zu Hause angekommen bewegte sich der Erinnerungsschalter von Ruhestellung langsam wieder auf dumpfes Brüten zu. Unfähig sich zu konzentrieren goß er sich fahrig einen Tee auf, drehte sich eine Zigarette. Legte automatisch eine CD in den CD-Spieler. Als die ersten Töne erklangen, stiegen im Tränen in die Augen. Doch diesmal Tränen der Trauer, nicht der Wut.

Die Türglocke schellte. Er nahm es kaum war. Stand benommen auf und öffnete die Tür. Sein Sohn. „Hi, wollte Dir mein Schlagzeug bringen. Kannst Du’s irgendwo unterstellen. Hab selbst keinen Platz mehr dafür“. Zusammen luden Sie den Kram aus und bauten es in seinem Arbeitszimmer auf. „Kannst Du’s mir stimmen?“ frage er seinen Sohn. „Dann kann hin und wieder drauf rumtrommeln“.

Sein Sohn setzte sich auf den Hocker und legte los. Hörte sich, nachdem alles aufeinander abgestimmt war, gut an. So würde er nie spielen können. Genauso wenig, wie auf der Gitarre. Hatte mehrmals angefangen mit dem Unterricht. Aber immer wieder lustlos aufgehört. Genauso wie mit der Mundharmonika. „Ok“, sagte sein Sohn, „ich dampf dann mal wieder los. Mach’s mal erst gut“. Wieder war er allein.

Die nächsten Tage nahmen groteske Züge an. Er erlebte die Welt wie in Watte. Rauchte zu viel. Trank zu viel Kaffee. Aß zu wenig. Schlief zu wenig. Verfolgte SIE auf Schritt und Tritt. Immer im Verborgenen, immer unentdeckt.

Endlich hatte er seine depressive Phase überwunden, ließ Taten folgen. Bewegte sich am Rande der Legalität, überschritt sie. Samstagnacht, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los. Einen gemeinen Plan hatte er sich ausgedacht. Wollte dem vermeintlichen Rivalen den ersten Schock verpassen. In einem seiner vielen Stadtpläne hatte er sich die Straße herausgesucht. Das Auto stand auf dem Bürgersteig vor dessen Wohnung. Er stieg aus. Sah sich nach allen Seiten um. Alles still. Nahm seinen scharfen Spachtel und kratzte das Zulassungssiegel vom Nummernschild. Das würde so schnell nicht auffallen. Er hoffte, daß die Polizei das Fehlen irgendwann bemerkte. Das würde dem Fahrer dann sicher in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Hoffte er. Gut, dachte er sich, daß sind dann gleich mehrere Nadelstiche auf einen Streich. Völlig ruhig stieg er wieder in seinen Wagen und verließ die Gegend. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen.

Erst als er vor IHREM Haus angelangt war, wurde ihm bewußt, daß er in die falsche Richtung gefahren war. Nämlich in den nächsten Ort, anstatt nach Hause. Er hielt an, drehte die Scheibe herunter, steckte sich eine Zigarette an und rauchte. Als er sich die Finger an der Glut verbrannte, warf er sie aus dem Fenster und startete das Fahrzeug. Beschleunigte und schlug diesmal die richtige Richtung ein. Und er wünschte, daß er sich nicht immer fühlte, als würde er etwas vermissen.

Todmüde zu Hause angekommen, fielen ihm fast die Augen zu. Doch anstatt sich endlich Ruhe zu gönnen, setzte er sich vor seinen PC, legte eine CD eine (wieder eine, die ihn runterbrachte), und las in den alten Briefen. Die von ihm und die von hier.

Und er las: Der Tod dauert das ganze Leben und endet erst, wenn er eintritt.

Als er erwachte, war es schon  früher Nachmittag. Mit einem Kater in den Gliedern (er hatte doch gar keinen Alkohol getrunken) stellte er sich unter die Dusche. Das Wasser so heiß, daß es ihm fast die Haut verbrannte.

Er achtete kaum darauf, was er anzog. Steckte sich eine Zigarette an, als sich sein Magen mit einem Knurren meldete. Selbst diese Situation brachte er mit IHR in Verbindung (Warst du das, oder war ich das).

Er schwang sich auf sein Fahrrad (welch Wunder) und radelte in die City. Der Türke hatte bereits geöffnet. Es mußte also Sonntag sein. Er bestellte sich den Dönerteller mit viel Knoblauch. Auf wen sollte er jetzt noch Rücksicht nehmen.

Was war morgen? Da würde er SIE wiedersehen.

Er sah sie jeden Tag. Hielt sich jedoch zurück, behandelte sie als einen Freund. Ließ sich von seinem Schmerz nichts anmerken.

Doch was ihm am meisten zu schaffen machte, waren neuerdings diese Gefühlsschwankungen. War er früher tagelang richtig von der Rolle, bis sich wieder alles ein wenig einrenkte, so schwankte er nun von Minute zu Minute.

Gerade sprühte er noch über voll neuer Ideen für die Zukunft, war er Minuten später völlig betrübt, und den Tränen nahe. Konnte sich für nichts begeistern, um plötzlich einer Eingebung zur Folge am Computer arbeiten, oder schaltete völlig ab.

Nach und nach gab sich auch das. Und es stellte sich heraus, daß da nichts war, mit dem anderen Mann. Er hatte wieder mal völlig überzogen reagiert. Die Aktion tat ihm leid.

Mittlerweile hatte sich das Verhältnis zwischen ihm und ihr einigermaßen normalisiert, es wurden sogar schon wieder Scherze ausgetauscht, sie nahmen sich gegenseitig auf den Arm.

Aber es kostete ihn unheimlich viel Kraft. Zumal er sich auch niemandem mehr anvertraute.

Er entwickelte sich zu dem Mann mit den zwei Gesichtern. War Sie oder gemeinsame Bekannte in der Nähe, spielte er den Coolen, wie früher immer zu Scherzen aufgelegt. Doch schon nach kurzer Zeit schaffte er auch das nicht mehr. Mußte immer wieder Pausen einlegen, in denen er ruhig und in sich gekehrt da saß. Es viel keinem auf. Glaubte er zumindest.

Sobald er jedoch allein war (auf dem Nachhauseweg, oder vor dem PC), brach er ein. Fiel alles von ihm ab. Saß da, stierte in die Luft, hatte keine Energie mehr.

Er zwang sich dazu, keine melancholischen Songs zu hören. Nicht mehr in den alten Briefen und Notizen zu blättern.

Dann kündigte SIE. Hatte eine neue Stelle. Panik erfüllte ihn, wenn er an den letzten gemeinsamen Tag dachte. Wie würde der Abschied vonstatten gehen? Würde er SIE danach jemals wiedersehen?

Dann war der Tag da. Sie ging über den Flur. „Tschüß“. Das war’s. Auf dem Hof liefen sie sich nochmals über den Weg. Er sah, wie sie zögerte. Spürte, wie es in ihr arbeitete. Sie drehte sich um. „Machs gut“. Er grüßte zurück und ging weiter. Wartete an der Straße. Als sie mit ihrem Wagen vorbeikam, hielt sie an, kurbelte das Fenster herunter und stellte eine Frage. Wieder reagierte er nur mit einer Antwort. Dann fuhr sie davon.

Wie schon so oft in seinem Leben hatte er eine Gelegenheit nicht genutzt. Völlig apathisch fuhr er heim. Alle guten Vorsätze waren dahin. Er hatte das Gefühl, diesen Tag nicht zu überstehen. Einfach zu erlöschen, wie eine Kerze. Konnte man solch einen Schmerz ertragen? Grübelnd beendete er den Tag.

Und abends im Bett wünschte er sich zu sterben. Einfach einschlafen und nie wieder aufwachen. Er wußte, lange würde er diese Qual nicht mehr aushalten.

Mittlerweile waren einige Tage vergangen und er hatte sich so gut wie möglich mit der Situation abgefunden. Schlimm waren nur immer die Flashes.. Plötzlich hatte er das Gefühl sie stünde neben ihm. Plötzlich nahm er ihren Duft wahr. Einmal sah im Fenster gegenüber ihre Gestalt und er drehte sich tatsächlich um. Bei jeder melancholischen Situation im Fernsehen (bei Sendungen, wo er früher weggezappt hätte) kamen ihm die Tränen.

Liebe war schlimm. Er fragte sich, ob er jemals lieben könnte, ohne Schmerzen zu verspüren. Liebe war wie ein loderndes Feuer, das ihn langsam verbrannte, bis nur noch ein Haufen Asche übrig blieb.

Vielleicht war es so, daß man, wenn man seelische Schmerzen verspürte, irgendjemandem wehtun musste. Aber daß wollte er nicht. Also tat er sich selbst weh.

Und er spürte, daß etwas in ihm brodelte und er hatte Angst davor, zu explodieren. Oft saß ihm ein Kloß ihm Hals. Kam aber nicht heraus, und versuchte ihn zu ersticken. Aber es war doch erst eine Woche vergangen, daß er sie das letzte Mal sah. Sie fehlte ihm so sehr. Was sollte die Zukunft nur bringen.

Vielleicht, wenn er sich anstrengen würde, konnte er sie im Laufe der Zeit vergessen. Vielleicht! Aber wollte er das? Die Liebe seines Lebens? Und so gab er sich weiter seinen schmerzlichen Erinnerungen hin.

Denn er hatte jetzt Zeit. Sein Vertrag war nicht verlängert worden. Und wenn er zurückblickte, auf sein Leben, so war auch das ein weiterer Fehlschlag. Obwohl er nicht das Gefühl hatte, schlechter zu sein als andere. Dinge die ihn früher geärgert hatten, berührten ihn kaum noch. Er konnte aus nichts mehr eine richtige Befriedigung ziehen. Würde er je wieder normal leben können? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn man liebt, schoß es ihm in den Kopf. Entweder man ist mit demjenigen zusammen, oder man träumt davon.

Nur, wenn er sich die schönen Stunden in Erinnerung rief, vermißte er sie umso mehr. Und automatisch stellten sich auch die schlechten Erinnerungen ein. Und dann sank er wieder in dumpfes Brüten.

Am nächsten Tag stand ein Turnier mit seiner Auswahlmannschaft an. Die ganze Zeit über war er voll konzentriert. Seine Mannschaft spielte gut, und er führte sie zum Sieg. Der Jubel war groß und dementsprechend dauerte die Rückfahrt. Doch wie immer, bekam er die Quittung, als die Anspannung von ihm abfiel.

Nachdem er den letzten Spieler gut gelaunt. zu Hause abgeliefert hatte, traf es ihn wie ein Schlag. Er mußte über den Ort fahren, wo sie so schöne Stunden verbracht hatten. Hier hatte SIE sich das erste Mal in der Öffentlichkeit auf einer Parkbank in seinen Schoß geschmiegt. Hatten sich unterhalten und liebkost. Die Erinnerung schlug mit solcher Macht zu, daß er am Straßenrand anhalten mußte, weil er am ganzen Körper zitterte. Mit bebender Hand zündete er sich eine Zigarette an. Rauchte abgehackt, drückte sie halb geraucht aus, als er Schluckauf bekam.

Nach kurzer Zeit hatte er sich wieder unter Kontrolle. In den letzten Tagen hatte er gelernt, sich in Teilnahmslosigkeit, in Apathie zu versetzen. Dann war der Schmerz nicht so groß.  

Es war an einem Freitag, als er sich die Tabletten besorgte. Die letzten drei Tage waren fast unerträglich gewesen. Doch noch brauchte er sie nicht. Konnte sich noch kontrollieren.

Abends war Party angesagt. Gegen Mitternacht verabschiedete er sich. Zuhause nahm er zwei Stück der Beruhigungsmittel, weil er mal wieder vernünftig schlafen wollte. Auch am Tag darauf fühlte er sich sehr beruhigt, wirkten die Pillen noch.

Plötzlich jedoch erfüllte ihn Tatendrang. Er räumte auf. Setzte sich in seinen Wagen und wollte einkaufen. Kaufte jedoch nur Schokolade und einen Strauß Blumen. Tankte noch das Auto auf. Wieder zurück, nahm er die verwelkten Blumen aus der Vase. Stellte den neuen Strauß hinein. Ging in sein Arbeitszimmer. Stellte seinen Radiowecker ein. Zog eine Flasche

Mineralwasser aus der Kiste. Ging zum Schreibtisch, drückte die restlichen Tabletten aus der Packung und nahm sie mit reichlich Wasser ein. Legte sich auf die Liege und dachte an nichts mehr.

Als er erwachte, befand er sich auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses. Man hatte ihn zu früh gefunden. Vielleicht hatte auch die Dosis nicht gereicht. Einen Tag behielt man ihn dort. Dann verlegte man ihn in eine geschlossene Station im Landeskrankenhaus.

War’s das jetzt? War dies das vorläufige Ende?

Schon nach kurzer Zeit hatten die anderen Insassen sein offenes Ohr für ihre Geschichten erkannt. Er war der Kummerkasten. Allerdings seinen Kummer wurde er hier nicht los. Doch vollgestopft mit den Problemen der anderen, verblaßte seines.

Da war jemand, der schon über zwanzigmal einen Suizidversuch hinter sich hatte. Hatte Angst, daß seine Ehe dadurch in die Brüche ging. Und dann war da eine Frau, noch unter dreißig. Hatte sich mit??? übergossen und angezündet. Und dann war da eine Frau, die bei der Geburt ihres dritten Kindes reanimiert werden mußte. Dabei waren nicht alle Gehirnfunktionen zurückgekehrt. Eine Frau war von ihrem Vater enterbt worden, weil er sie für nicht fähig hielt, den Besitz zu verwalten. Hatte seitdem mehrere Suizidversuche unternommen. Und dann war da jemand, der Stimmen hörte. Und eine Stimme hatte ihm gesagt, für ihn sei er GOTT. Und er hatte geantwortet, daß wolle er nicht sein, dann hätte er zuviel Verantwortung. Und dann war da ein noch ganz junger Mann. Er war freiwillig dort. Wollte sich wegen seiner Aggressionen behandeln lassen. Hatte schon mehrere. Freundinnen dadurch verloren. Die letzte hatte er so geliebt, daß er sich einweisen ließ.

Und kurz vor seiner Entlassung kam ein Neuzugang. Türke. Seine Freundin hatte ihn verlassen. Da war er aus dem dritten Stockwerk gesprungen. Hatte sich allerdings nur ein paar Knochen gebrochen. Jetzt war er hier. In der Psychiatrie.

Wie gesagt, all diese Probleme lenkten ab. Aber vergessen konnte und wollte er SIE nicht.

Nach gut zwei Wochen konnte er die Station wieder verlassen. Und als erstes ging er die Wege, die er mit IHR gegangen war. Und besuchte die Stellen, wo er mit IHR gewesen war. Um zu sehen, ob es noch wehtat. Es tat nicht mehr weh. Einerseits war er froh darüber. Andererseits…

Die Zeit verging. Und tatsächlich, er hatte es nicht geglaubt, heilte die Zeit seine Wunde. Noch einmal sah er sie wieder. Den Tag danach deklarierte er im Rückblick als Abschiednehmen. Er verkroch sich in seiner Wohnung, hört Musik und las, las alles was ihm unter die Finger kam. Und dann war die Schublade zu. Die Schublade, aus der immer diese Erinnerungen herausgehangen hatten. Und, wenn er versuchte sie zuzuschieben, diese Erinnerungen einklemmte. Das tat weh. Nun war diese Schublade zu. Nicht nur zu, sondern auch verschlossen. Und nur SIE konnte sie mit ihrem Schlüssel öffnen.

Wieder vergingen einige Wochen. Immer noch hielt die Lade. Selbst wenn er daran rüttelte hielt sie. Einerseits war er froh, diese Hochs und Tiefs überwunden zu haben.

Andererseits konnte er nicht glauben, sie nicht mehr zu lieben. Liebte er sie noch. Abends stand er auf seiner Terrasse und raucht und dachte nach. SIE war ihm fremd geworden. Fremd geworden in der letzten Zeit. Was, wenn SIE doch noch zu ihm finden würde. Hatte SIE den passenden Schlüssel? Hin und wieder setzte noch leichte Wehmut ein. Aber das war gut zu ertragen. Depressionen waren was anderes. Er fragte sich nicht mehr, warum SIE so und nicht anders entschieden hatte. Er fragte nicht mehr, wenn sie mehr Zeit zusammen gehabt hätten, ob es anders gekommen wäre. Nur eines fragte er sich noch manchmal. Warum konnten andere Frauen ihre Männer verlassen? Selbst mit drei Kindern konnten diese das tun. SIE hatte es nicht gekonnt.

Und doch kamen diese Gedanken, die er nie vermeiden konnte. Warum war er auf der Welt? Wofür lohnte es sich zu leben? Aber das hatte nichts mit der Situation zu tun. Oder doch? Auch früher hatte er oft gezweifelt. Den Sinn des Lebens gesucht. Nie gefunden. Eins hatte er jedenfalls gelernt in dieser Zeit. Er konnte Gefühle zulassen, ja er konnte Gefühle auch zeigen. Doch waren es die Gefühle, die ihn immer wieder verzweifeln ließen.

Eines Tages hatte er sich (so glaubte er jedenfalls) wieder im Griff. Ja, er hatte sogar eine neue Beziehung begonnen. Doch schon nach vierzehn Tagen hatten ihn seine alten Erinnerungen wieder im Griff. Immer wieder verglich er die Neue mit der Alten. Dabei konnte die Neue nur verlieren. Und so machte er Schluß. Aber auf seine Art. Vorsichtig und gefühlvoll. Nicht wie mit dem Hammer, wie es ihm ergangen war. Er vergrub sich wieder in seiner Wohnung vor seinem Computer und starrte melancholisch aus dem Fenster. Trüb und regnerisch. Wieder hatte sich das Wetter seinen Stimmungen angepaßt. 

Und auch der Wunsch war wieder da. Der Wunsch, es nochmals zu probieren. Immer wenn er sich zur Nacht ins Bett legte, schlugen ihn diese Gedanken in ihren Bann. Er malte sich immer und immer wieder aus, auf welche Art er aus dem Leben scheiden könnte. Warum sollte er im Leben bleiben, wo das Leben ihn doch schon verlassen hatte.

Aber mittlerweile hatte ihn der Mut verlassen. Der Mut, der dazu gehörte, den entscheidenden Schritt zu tun. Ja damals, da hatte es keinen Mut gebraucht. Weil es nicht geplant gewesen war. Es war so nebenbei geschehen. Nun war die Situation anders.

Als er am nächsten Tag erwachte, waren die trübsinnigen Gedanken wieder einmal verflogen. Wie er das haßte, dieses Wechselbad der Gefühle. Er setzte sich an den PC und versuchte, seine Gedanken aufzuschreiben. Doch selbst dies mißlang. Gelangweilt sah er aus dem Fenster. Wieder hatte sich das Wetter seiner Verfassung angepaßt. Obwohl bereits Mitte November, schien die Sonne und von Wolken war weit und breit nichts zu sehen. Also rauf aufs Rad. Doch das Unterbewußtsein machte sich mal wieder selbstständig. Führte in an all den Plätzen vorüber, an den noch so tiefe Erinnerungen hingen. Die Traurigkeit schlich sich durch die Hintertür ein und hatte ihn nach ein paar Kilometern wieder fest im Griff.

Als er am Bahnhof vorüber fuhr, machten sich ein paar Tränen selbstständig. Ja, hier hatte es die letzte, unwiderrufene Abfuhr gegeben. Und trotzdem sah er nach IHREM Auto. Er fand es nicht.

Als das bewußte Denken wieder einsetzte, befand er sich bereits auf dem Weg in den Nachbarort, in dem ein Freund wohnte. Er hatte sich den Walkman aufgesetzt, den er zwar mitgenommen, aber nicht benutzt hatte. Im Straßenverkehr der Stadt kam das nicht so gut.

Er sah auf die Uhr. Ja, der Freund würde zu Hause sein. Und vielleicht könnte man ja mal wieder was zusammen aushecken.

Als er auf den Hof einbog, sah er, daß der Wagen seines Freundes nicht dort geparkt war. Also war er doch nicht daheim. Er zündete sich eine Zigarette an. Die letzte aus der Packung. Er würde sich noch irgendwo eine neue besorgen müssen. Er setzte sich auf den Gepäckträger und rauchte.

Der sonnige Tag hatte sich verändert. Graue Wolken waren aufgezogen, aber noch war es trocken. Den Zigarettenstummel wegwerfend stieg er wieder aufs Rad. Zum nächsten Automaten war es nicht weit und auf dem Rückweg konnte er nochmals hier vorbeifahren, um zu sehen, ob der Freund inzwischen eingetroffen war. Er mußte einige Automaten anfahren, denn nirgends waren filterlose Zigaretten zu bekommen. Also in den nächsten Laden.

Es hatte bereits zu dämmern begonnen, als er wieder vor dem Haus seines Freundes eintraf. Noch immer war das Auto nicht da. OK, das war’s dann. Länger wollte nicht warten. Und pünktlich zum Rückweg begann es zu nieseln. Und wie immer funktionierte der Dynamo bei Nässe oder Feuchtigkeit nicht. Zunächst ließ er ihn noch mitlaufen, dann stellte er ihn wieder in die Normalstellung. Es behinderte ihn nur. Und es war doch auch ganz schön, so im Dämmerlicht und geiler Musik auf den Ohren durch den leichten Regen zu fahren.

Er hatte seine Brille auf die Nasenspitze geschoben, denn das Licht, daß hier und da an den Höfen und anderen Gebäuden brannte, machte ihn durch die Gläser hindurch regelrecht blind.

Nach einiger Zeit hörte die Musik auf und es klackte im Kopfhörer. Freihändig und zum zweiten Male drehte er die Kassette um.

Er mußte wohl eine hastige, unachtsame Bewegung gemacht haben, denn das Rad kam ins Schlingern und bevor er noch eine Hand an den Lenker bekam, schlug das Vorderrad um er knallte in den Straßengraben.

Im ersten Augenblick bekam er keine Luft. Und auch im zweiten Augenblick konnte er nicht atmen. Er faßte sich an die schmerzende Stelle am Hals. Ein daumendicker Ast, der wohl beim letzten Sturm hierher geweht worden war, steckte direkt unter seinem Adamsapfel. Panik stellte sich ein. Verzweifelt versuchte er Luft zu bekommen. Mit beiden Händen packte er das Holzstück und riß es heraus. Ein Blutstrom ergoß sich über seine Finger.

Ein Spaziergänger mit seinem Hund fand am nächsten Tag einen leblosen Körper im Straßengraben. Die Hände um den Hals gekrallt, die Augen weit aufgerissen im Angesicht des Todes. Neben sich ein verbogenes Rad und ein Stück Holz, auf dem das Blut noch nicht eingetrocknet war.